Oli’s unglaubliche Geschichte zum Ironman Wales

„Mach‘ den Sack zu!“- Oli Fischer

Nach drei Jahren Ironman-Abstinenz wurde es Zeit, einen erneuten Anlauf zum Erreichen der Hawai’i-Quali zu nehmen. Heuer 40 Jahre alt geworden, würde ich bei den Jüngsten in der AK 40-44 sein. Ein Vorteil. Die Wahl des Rennens fiel auf den Ironman Wales, weil die Velo- und Laufstrecken viele Höhenmeter aufweisen, was meinem geringen Gewicht entgegenkommt. Ausserdem gilt die Quali für das Folgejahr, und ein Jahr Vorbereitungszeit macht es einem Familienvater einfacher, einen Hawai’i-Urlaub zu planen, zu organisieren und für das Rennen zu trainieren. Das Ziel der Mission ‚Wales‘ war also klar: Ein Slot für die Ironman World Championship 2018.

Bei der Vorbereitung war ich meinem Kodex treu geblieben: Qualität vor Quantität, und alles selber machen, vom Trainingsplan bis zum Set-up meines Bikes. Ohne Coach und ohne Mechaniker.
Die Vorbereitung begann bereits im Spätherbst letzten Jahres, mit der Erarbeitung einer soliden Grundlage in meiner schwächsten Disziplin, dem Laufen. Dabei war ein erster Meilenstein der Marathon Zürich, den ich unter drei Stunden laufen wollte. (Ich habe mir nämlich einmal gesagt, dass ich gar nicht erst nach Hawaii gehen muss, solange ich nicht den Marathon unter drei Stunden zu laufen imstande bin. Aber dazu sollte es nicht kommen, da ich drei Wochen vor dem Marathon dermassen krank geworden war, dass ich bis danach Zeit brauchte, um mich wieder belasten zu können. Mein Training und meine Form zum Start in Wales wollte ich auf keinen Fall aufs Spiel setzen.
Das Schwimmen hatte in der Vorbereitung die geringste Priorität. Als Ehemann und Vater einer kleinen Tochter war mir die Zeit mit der Familie schlicht zu wertvoll, um sie ins Schwimmen zu investieren: Für eine Netto-Stunde Schwimmtraining gehen schnell einmal zwei Stunden drauf (packen, ins Bad fahren, umziehen, schwimmen, duschen, umziehen, zurückfahren, auspacken), und das drei-, vielleicht viermal pro Woche, um am Ende im besten Fall maximal fünf Minuten schneller zu sein. Investierte ich hingegen diese zwei Stunden ins Laufen, hatte ich auch fast zwei Stunden Trainingseffekt und im Ironman vielleicht einen Gewinn von dreissig Minuten oder noch mehr: Beim abschliessenden Marathon potenzieren sich die Stärken bzw. Schwächen.
Um das Radfahren machte ich mir am wenigsten Sorgen, handelt es sich doch um meine Stärke. Mit dem Training für und der Teilnahme an der Tortour (in der Sprint-Kategorie) würde ich über genügend Training verfügen.
Gemittelt über die letzten sechs Monate habe ich gute 11 Stunden wöchentlich trainiert (wobei ich nach Training Stress Score trainiert habe, und nicht nach Zeit oder Distanz).

Qualität vor Quantität! Schön und gut, aber würde so wenig wöchentliches Training reichen, um an einem der härtesten Ironman-Rennen der Welt einen Slot für Hawaii zu holen? Immerhin musste ich unter die ersten sechs in meiner AK kommen.. Das würde einer Rennzeit von etwa 10:15 entsprechen, für 3.8 km Schwimmen im Meer, 180 km Velofahren mit 2200 hm und 42.2 km  Laufen mit 500 hm. Kommt noch hinzu, dass nach dem Schwimmen eine 50 m hohe Rampe hochgerannt werden muss, gefolgt von einem Kilometer durch das Städtchen, hin zur Wechselzone. Das alleine frisst gute fünf Minuten.
Drei Monate vor dem Rennen gab die Ironman Corporation bekannt, dass sie für Wales zu den 40 bestehenden Slots zusätzliche 25 vergeben würde, als Huldigung für die Härte des Rennens. Das nahm mir etwas Druck, würde doch jetzt ein neunter Platz reichen, um nächstes Jahr Ferien auf Hawai’i machen zu können!

Mit Ausnahme einer leichten Erkältung kurz vor der Tortour, verliefen die letzten, wichtigen Wochen vor dem Wettkampf gut. Drei Wochen Ferien halfen dabei. Je näher Tag X rückte, desto grösser wurde die Angst, dass noch etwas passieren könnte, das eine erfolgreiche Teilnahme infrage stellte. Nach so vielen Monaten Training, Entbehrungen für mich, aber auch für meine Liebsten, und in Anbetracht des Aufwandes für die Reise nach Wales, war es schwierig, in den letzten Tagen die Ruhe zu behalten. Zur Nervosität gesellten sich Phantomschmerzen an fast jeder Stelle meines Körpers.


Am Donnerstag angekommen, zeigte sich Wales von seiner rauhen Seite, mit Wind und Nieselregen und eher kühlen 17° Celsius. Die teils schmalen, kurvenreichen und hügeligen, fast durchwegs von hohen Hecken gesäumten Strassen vom Flughafen Cardiff nach Tenby gaben mir einen Vorgeschmack auf die Bikestrecke und trugen nicht unbedingt zur Vorfreude auf das Rennen bei. Aber ich bin ja ein guter Velofahrer. Zweckoptimismus.  Auch die Wetteraussichten waren nicht gerade rosig. Glücklicherweise performe ich bei kühlen Temperaturen in der Regel besser. Zweckoptimismus.

Am Freitag, nach der Registrierung und einem kurzem Schwimmen im kalten aber erstaunlich ruhigen und sauberen Meer am Strand von Tenby, fuhr ich mit Eva und Mara (beide schliefen die meiste Zeit) im Auto die Radstrecke ab und war danach etwas konsterniert: Fast keine ebenen oder geraden Teilstücke, die man als Zeitfahrer so schätzt. Dafür meist sehr schmale, kurvige Strässchen mit schlechtem, rauhem Asphalt und vielen kurzen aber steilen Aufstiegen. Und die Bergab-Passagen waren oft so unübersichtlich und steil, dass man kaum Zeit gut machen können würde. Ein kleiner Trost war, dass es für alle die gleichen Bedingungen sein würden. So auch das Wetter, das wie folgt prognostiziert war: Stark bewölkt, am frühen Morgen trocken, dann bis Mitte Nachmittag regnerisch, am Abend wieder trocken. Starker und weiter zunehmender Wind von 40 km/h am Morgen, bis über 50 km/h am Nachmittag, mit Böen über 70 km/h! Glücklicherweise hatte ich mit einer Vorahnung einen zweiten, weniger windanfälligen Laufradsatz von zuhause mitgenommen. Aufgrund der rauen Bodenbeschaffenheit entschied ich mich, am Hinterrad noch kurzfristig (das heisst eine halbe Stunde vor Ende des Bike-Check-in) einen 25er-Reifen aufzuziehen, um mit weniger Druck und damit mehr Laufruhe fahren zu können. Dass ich dafür die Stellschrauben in den Ausfallenden und die Bremsschuhe würde anpassen müssen, wurde mir erst klar, als ich sah, dass das mit dem 25er-Reifen montierte Rad dermassen am Rahmen streifte, dass es blockierte. Ich muss an dieser Stelle wohl nicht den Stress beschreiben, den ich hatte, um das Problem in den verbleibenden zwanzig Minuten vor Ende des Bike-Check-in zu lösen. Glücklicherweise konnte ich mit einem eilends gekauften Multitool (mein eigenes Werkzeug war im zu weit entfernten Hotel) die nötigen Handgriffe selbst ausüben und mein Bike gerade noch rechtzeitig in die Wechselzone bringen. Trotz all dem Stress war ich überzeugt, dass sich der der 25er Reifen bezahlt machen würde.
In der Nacht vor dem Start konnte ich erstaunlich gut schlafen, vielleicht auch weil ich wusste, dass ich bis zur letzten Minute alles in eine optimale Vorbereitung investiert hatte. Ich war in der Form meines Lebens und war bereit für alles, was kommen würde.

Meine Renntaktik war wie folgt: Mich beim Schwimmen schadlos halten, das heisst möglichst viel draften, um trotz meines fehlenden Trainings doch noch mit einer passablen Zeit aus dem Wasser zu kommen. Dann den Neo bis in die Wechselzone anbehalten (es würde ja kühl sein) und beim Rennen in die Wechselzone ziemlich Gas geben, denn da konnte man schnell zwei Minuten gewinnen oder verlieren. In der Wechselzone sich die Zeit nehmen ein Langarm-Trikot anzuziehen (es würde ja kühl sein). Auf dem Velo im Gegenwind möglichst in einer Gruppe fahren, denn auch mit den legalen 12 Metern Abstand hat man bei 50 km/h Gegenwind noch einen Windschatten; in den Steigungen mein geringes Gewicht und in den Abfahrten meine technischen Qualitäten ausspielen. Offensiv fahren, um mit einer guten Ausgangslage (möglichst unter den ersten Zehn) in den Marathon zu gehen. Dabei gut verpflegen, um auf einem guten Energielevel zu bleiben. Im abschliessenden Laufen einen Top-Ten-Platz verteidigen oder nötigenfalls erkämpfen. Und den Slot holen!
Am Abend vor dem Start sagte Eva etwas, das mir während des ganzen Rennens nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte und schon fast zu einem Mantra werden würde: In Anbetracht der Slotvergabe am Montag von 11:00 bis 14:00 und unserem Abflug in Cardiff um 17:30 Uhr, sagte sie, es wäre gut, wenn ich mit einem Platz unter den ersten Acht den Sack schon zu machen würde, damit wir mit Sicherheit wüssten, dass ich einen Slot bekommen würde, und nicht bei der Slotvergabe mit Platz 10 doch noch leer ausginge und wir dann auch noch das Flugzeug verpassten. Den Sack zu machen. Mach den Sack zu!

Wir stehen am Strand, ich habe mich beim Schild mit der Aufschrift „Swim Time < 60 min“ eingereiht. Vor mir sind etwa 100 Athleten, hinter mir etwa 1900, in einer 5 Meter breiten Schlange, die bis zurück hinauf ins Städtchen Tenby reicht. Ich kann 30 Meter vor mit Reto Fröhli ausmachen und wünsche ihm viel Glück. Die Walisische Hymne ertönt; bärtige, kräftige Männer singen voller Inbrunst. Mir steht das Wasser in den Augen. Die Stunden der Wahrheit stehen unmittelbar bevor.
06:55 – Startschuss für die Profi-Männer. 06:56 – Startschuss für die Profi-Frauen. (Ich zähle vier.) 07:00 – mein Startschuss. Ein Strom von 2000 Menschen ergiesst sich ins Meer wie ein Lavastrom auf Big Island. Das Wasser ist kalt aber ruhig. Ich gehe es die ersten paar Hundert Meter sachte an, um nicht anzusäuern. Ich warte darauf, dass mich ein schnellerer überholt, damit ich meine Drafting-Strategie ausspielen kann, aber es kommt keiner. Ich schwimme ziemlich alleine und überhole mehr und mehr. Die Richtung stimmt, die erste Boje ist direkt vor mir und schnell erreicht. Ich habe einen guten Rhythmus gefunden. Die zweite und dritte Seite des Streckendreiecks vergehen wie im Flug, ohne Gerangel und Wasserschlucken, aber halt auch ohne jemanden zum Draften zu finden. Ich hatte noch nie in einem Triathlon ein so ruhiges Schwimmen! Kurz vor dem Australischen Ausstieg vibriert meine Uhr: 1900 m . Das heisst, ich bin ziemlich gerade geschwommen, habe keine Extra-Meter geschwommen. Während des Laufens über den Strand verrät mir ein kurzer Blick auf die Uhr, dass ich erst 30 Minuten unterwegs bin. Es läuft gut! Mit ein paar Delfinsprüngen geht’s in auf die zweite Runde; noch einmal das Dreieck. Ich weiss nicht, ob es an den 2000 Menschen liegt, die nun in der Bucht schwadern, oder an den Booten, die nebenherfahren, aber jetzt sind markante Wellen spürbar. Ich erhöhe meine Schlagzahl. Noch immer niemanden zum Draften – muss ich halt alles alleine machen. Dafür kann ich mich darauf konzentrieren, weiterhin möglichst gerade zu schwimmen. Jetzt noch richtig Gas geben, alles aus den Armen rausholen, denn die brauche ich für den Rest des Tages nicht mehr! Mach den Sack zu, Oli!
Gegen Ende der zweiten Runde schwimme ich auf die langsamsten Athleten der ersten Runde auf, es gibt ein paar unsanfte Überholmanöver. Dann ist die erste Disziplin geschafft! Ich schwimme noch so weit wie möglich, dann steige ich aus dem Wasser und höre das Gejohle der vielen Zuschauer dumpf durch meine Schwimmkappen und das Wasser in meinen Ohren. Noch besser höre ich mein Herz pumpen. Jetzt auf Beinarbeit umstellen! Ich drücke LAP auf meiner Uhr und sehe die Schwimmzeit: Gerade mal eine Stunde. Geil. Mach den Sack zu! (Wie ich später erfahren werde, befinde ich mich auf dem 10. Platz meiner AK.) Ich stürme den Zick-zack-Weg hinauf, montiere auf halbem Weg meine Laufschuhe und laufe quasi am Limit durch das Städtchen zur Wechselzone, in die T1. Dort nehme ich mir die Zeit, ein langes Trikot über die nasse Haut zu ziehen; Startnummer an, Helm und Brille auf – weg! Die Schuhe habe ich bereits auf den Pedalen, was sich als guter Entscheid erweist, denn durch den Regen ist die Wechselzone rutschig geworden, und mit Veloschuhen hat man ja auch sonst schon nicht gerade den besten Grip.

 

In den ersten Minuten nehme ich gleich einen Gel und ein Stückchen Magenbrot ein. (Ja, richtig gelesen: Original Werner’s Markt-Magenbrot – mein Geheimtipp!) Auf den ersten 40 Kilometern der Velostrecke Richtung Westen bin ich nicht allein. Ich habe mich einer etwa fünf Athleten grossen Gruppe angeschlossen, in der untereinander immer wieder die Plätze getauscht werden. Mal überhole ich einen, mal werde ich wieder überholt. Aber immer fair. Die Abstände betragen meist die vorgeschriebenen zwölf Meter, aber das bringt auch schon recht viel Windschatten bei ca. 40 km/h Gegenwind. Einmal überholt uns ein Schiedsrichter-Motorrad, um etwas weiter vorn dann anzuhalten und das Geschehen aus dem Stand zu beobachten, einige Kilometer weiter dann noch einmal. (Danach werde ich in diesem Rennen nie mehr einen Schiedsrichter sehen.) Ich versuche, jede Viertelstunde etwas zu essen und ein wenig zu trinken, wobei letzteres bei 14°C, Wind und zweitweisem Sprühregen nicht sehr erforderlich ist. Die Strecke ist nass und ziemlich rutschig, wie ich in einer engen Kurve, in die ich etwas zu spät bremse merke: das Hinterrad blockiert kurz, und ich muss mich auf die andere Strassenseite tragen lassen, um nicht zu stürzen. Schwein gehabt! Auf offener Strecke haben wir mit dem starken Wind zu kämpfen, der in Böen auch mal von der Seite angreift. Und er wir immer stärker. An einer Passage nahe am Meer muss ich mich so klein wie irgend möglich machen und den Basislenker fest umklammern, damit es mich nicht von der Strasse windet. Zum Glück bin ich nicht mit Scheibenrad und Deep Rim unterwegs!
Etwas später fahren wir auf einem Abschnitt, wo uns Athleten vom nicht mehr allzu weit entfernten Wendepunkt auf der Gegenfahrbahn entgegen kommen. Da liegt ein Athlet neben seinem Velo auf der Strasse, hält sich den Arm, windet sich vor Schmerzen und schreit wie am Spiess. Ich komme mir schlecht vor, weil ich einfach an ihm vorbei fahre, wie all die Athleten vor und hinter mir auch. Sorry, aber ich bin so gut dran, ich muss den Sack zu machen! Wenigstens hat ein Streckenposten hundert Meter weiter den Unfall auch gesehen, was mein Gewissen etwas erleichtert.
Am äussersten westlichen Zipfel der Velostrecke, am Wendepunkt bei Kilometer 40, passiert es dann mir. Der Streckenposten an der Haarnadelkurve ruft noch eindringlich mit Gesten untermauernd: „Slow down, slow down!“ „Pah“, denke ich mir, „lass mal gut sein, ich bin ein guter Fahrer und hab’s schon im Griff.“ Ich bremse in die Kurve hinein, und dann kann ich nicht mehr auch nur ansatzweise reagieren, so schnell zieht es mir das Velo unter dem Arsch weg! In nullkommanichts knallt es mich auf die rechte Seite. Ich schlage mit Hüfte und Ellenbogen heftig auf. Gopferdammi, das darf nicht wahr sein! Voll im Rennmodus, voll mit Adrenalin, stehe ich auf, checke mit einem Blick das Bike – es sieht alles normal aus – und will wieder aufsteigen, da fällt mir mein linker kleiner Finger auf – er sieht nicht normal aus: Im Mittelgelenk ist er abgeknickt, die vordere Hälfte steht etwa 30° nach aussen ab. „Fuck!“ Wie im schlechten Film ergreife ich den Finger und knicke ihn wieder zurück in seine Position, die er die letzten 41 Jahre hatte. Wie in Trance schwinge ich mich wieder aufs Velo und fahre weiter. „Are you ok?“ ruft mir der Streckenposten hinterher. „Yeah, just broke my little finger!“ rufe ich so cool es geht zurück. Ich schäme mich für meine überhebliche Fahrweise. Oli, Du bist so ein Idiot! Um ein Haar wärst Du im Spital gelandet! All die Monate Training, die Vorbereitungen, die Reise hierher, dieses Rennen im Scheisswetter; alles, um in einem walisischen Spital zu enden, anstatt mit einem Hawai’i-Slot in der Hand!? Nur wegen Deiner Arroganz und ein paar Sekunden? Ich könnte mich ohrfeigen, täte es nicht so schon genug weh. Und es hätte leicht noch schlimmer kommen können, mit einem Arm- oder Schlüsselbeinbruch oder einem gebrochenen Schaltauge! Das Velo funktioniert glücklicherweise normal, nur bei der Hüfte bin ich mir nicht so sicher; das wird sich erst beim Laufen zeigen. Hoffentlich nur eine Prellung. Die Hose ist noch ganz, auch das Trikot. Nur etwas Blut drückt durch den nassen Stoff. Auch den Finger kann ich noch bewegen, also sind keine Sehnen gerissen. Er wird durch den Regen gekühlt, die Schmerzen halten sich in Grenzen. Ich versuche mich auf das Rennen zu konzentrieren. Mach den Sack zu, Oli! Mach den Sack zu!
Bald fahre ich auf einen Athleten meiner AK auf, einen Portugieser. Er kann es nicht runterfressen, als ich ihn überhole und überholt mich nach einer Minute wieder zurück. Bleibe ich halt hinter ihm und profitiere etwas von seinem Windschatten. Seine Schaltung rattert und die Abdeckung des Ventils seines Scheibenrads flattert. Es nervt. Bald gesellen sich noch weitere Fahrer zu uns, und so fahren wir als Gruppe in die ersten längeren Steigungen im Hinterland hinein. Aus einer kurzen aber steilen Abfahrt fahren wir in eine Rampe hinein. Ich nehme so viel Schwung wie möglich mit; mehr als der Portugiese, der natürlich zuvorderst fahren muss. Er fährt rechts auf der Fahrbahn (es herrscht Linksfahrpflicht), vermutlich will er niemanden vorbeilassen. ‚Blocking‘ nennt man das. Ich überhole ihn kurzerhand links, um nicht auf die Gegenfahrbahn zu müssen, denn das Überfahren der Mittellinie würde mit DQF geahndet. Da flippt der Portugiese aus. „Hombre!!! To the right, to the right!!!“ schreit er mir hinterher, gefolgt von einer portugiesischen Schimpftirade. „You’ve blocked me!“ schreie ich zurück und trete kräftig in die Pedalen. In so einem vergifteten Klima will ich nicht fahren, und ausserdem fahren die mir sowieso zu langsam. Ich setze mich ab, habe rasch hundert Meter zischen uns gelegt. Jetzt ist es Zeit, meine Stärken auszuspielen. Jetzt ist es Zeit, anzugreifen. Mach den Sack zu! Ein paar Minuten später schaue ich auf einer langen Geraden zurück. Es ist niemand mehr zu sehen. Ich bin beflügelt und gebe noch mehr Gas. Essen nicht vergessen!
Den Rest der ersten, grossen Runde fahre ich alleine. Bei der Hälfte der Distanz, Kilometer 90, zeigt meine Uhr eine 2:40 an. Hochgerechnet ergäbe das eine Velozeit von 5:20, was eine fabelhafte Zeit wäre, gerade in Anbetracht der widrigen Umstände.  Drei einzelne Fahrer sammle ich vor Kilometer 100 in Abfahrten ein. Ich bin ja schon langsam unterwegs bergab, eingeschüchtert von meinem Unfall; aber die drei sind mit Laufrädern mit Carbon-Bremsflanken unterwegs und müssen jeweils schon 100 Meter vor den Kurven zu bremsen beginnen. Ich liebe meine Bremsflanken aus Aluminium! In Saundersfoot, einem pittoresken Dörfchen kurz vor Tenby, fahre ich durch eine johlende Menge von Zuschauern und sehe Eva. Die Sonne scheint für eine Minute. Mach den Sack zu! Ich fahre in eine 15%-ige Steigung hinein. Im Wiegetritt muss ich aufpassen, dass das Hinterrad auf dem rutschigen Asphalt nicht durchdreht. Die Zuschauer stehen Spalier. Wie auf der Alpe d‘ Huez stehen sie in der Fahrbahn und geben diese erst im letzten Moment frei, als hätte ich einen imaginären Pflug an meinem Vorderrad. Welch ein Krach, welch eine grandiose Stimmung! Unglaublich, diese Waliser! In der Schweiz hätte sich bei diesem Pisswetter kein Zuschauerknochen an die Strecke verirrt.
Die zweite, kleinere Runde beginnt in Tenby bei Kilometer 105. Noch 75 Kilometer. Es beginnt sehr stark zu regnen und der Wind bläst mir mit 50 Stundenkilometern direkt entgegen. Ich bin mutterseelenalleine. Für einen Bruchteil einer Sekunde überlege ich mir, wie es jetzt wäre, in die Wechselzone zu fahren und aufzugeben. Den Bettel einfach hinzuschmeissen. Ich mache mich ganz klein und drücke noch stärker in die Pedalen. Es ist so kalt, dass ich Krämpfe befürchten muss. (Und ich habe sonst nie Krämpfe.) Ich entscheide mich zur Flucht nach vorn: Wenn ich stärker trete, bleiben meine Muskeln warm, und ich bin erst noch früher fertig, also weniger lang dem Wetter ausgesetzt. Das Risiko dabei ist, dass ich mich verheize und nichts mehr für den Marathon übrig bleibt. Auf der anderen Seite wiederum gäbe es für mich nichts schlimmeres, als auf einem Platz ausserhalb der Slot-Ränge vom Rad zu steigen und mich dann als mittelmässiger Läufer im Marathon noch nach vorne kämpfen zu müssen. Lieber in einer komfortablen Lage den Marathon beginnen und den Vorsprung verwalten! Ich greife nach einem wasserdurchtränkten Stück Magenbrot. Das Wasser kommt oben und unten. Ich triefe vor Nässe. Ich liebe meine Neopren-Schuhüberzieher!

Die nächsten 15 Kilometer gegen den stürmischen Wind sind die längsten des ganzen Rennens. Kein anderer Fahrer in Sicht. Bin ich überhaupt noch auf dem Kurs? Hoffentlich hält das Rad. Nur keine Krämpfe! Zweifel kommen auf, die Gedanken werden düster. Das Zeichen, mich dringend zu verpflegen. Zeit für Gel Nummer drei. Dann endlich kann ich einen Fahrer in der Ferne ausmachen. Mein nächstes Ziel! Ich erhöhe den Druck auf die Pedale. Nach etwa 10 Minuten bin ich an ihm dran und überhole ihn. Ein Profiathlet. Hart verdientes Geld, heute. Aber ja, es gibt ja sogar Leute, die dafür noch bezahlen.
Die zweite Runde ist in Sachen Schlechtwetter kaum zu überbieten, aber dennoch vergehen die letzten 60 der 180 Kilometer rasch. Ein paarmal muss ich mich noch zwingen, meine Leistung hoch zu halten, nicht „einzuschlafen“, aber das nahende Ende motiviert mich. Ich schicke mich an, genügend zu essen. Die kalten Knie schmerzen bei zu viel Druck auf die Pedale, was mich zu einer höheren Kadenz zwingt. Ist eh gut für das bevorstehende Laufen. Nach etwa 5:40 Stunden auf dem Bike erreiche ich endlich T2. Ich habe auf den zweiten 90 Kilometern 20 Minuten verloren, aber das wundert nicht, bei dem Wind und Regen. Überholt hat mich jedenfalls niemand, also ist es den andern vermutlich nicht besser ergangen. Ich deponiere mein Velo und renne barfuss ins Wechselzelt. Alles weg, was ich nicht mehr brauche, die gepuderten Socken und Laufschuhe an, mein neues ‚Ironman Wales‘ Visor Cap auf, das 4er-Pack Gel in die Hand und weg. Mach den Sack zu!

Die Beine fühlen sich gut an, keine Anzeichen von Krämpfen, keine Schmerzen. Auch nicht in der Hüfte. Schwein gehabt. Der Finger schmerzt nur dumpf. Ich gehe es betont locker und easy an. Vier Runden sind zu absolvieren. Die Strecke führt hinaus aus dem Städtchen, hinein in eine drei Kilometer lange Steigung (ca. 80 Höhenmeter) auf der Hauptstrasse (wo uns die Velofahrer entgegen kommen), bis zu einem ersten Wendepunkt, dann zurück und bald abbiegen zu einem zweiten Wendepunkt, wo man für jede Runde einen Haargummi bekommt, wieder zurück und die Hauptstrasse runter, über einen dritten Wendepunkt schliesslich zurück ins Städtchen, wo nach zwei Schlaufen durch die Fussgängerzone der Zielbereich passiert wird, in welchen man erst nach Vollendung der vierten Runde einbiegen darf. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Lange, schmerzhafte Stunden liegen noch vor mir. Nach jedem Kilometer pieps meine Uhr und zeigt mir die Zeit an. Den Kilometer 3 in der Steigung habe ich in 4:40 zurückgelegt. Viel zu schnell! Ich muss mich zurückhalten! Ich hole zwei Athleten ein, kann aber nicht erkennen, ob sie in meiner AK sind. Auf welchem Platz bin ich wohl? Schön wäre unter den ersten Acht. Eingangs Städtchen wird Eva stehen, da werde ich es erfahren. Ich reisse einen Gel auf und drücke ihn mir in den Mund. Bei jeder Verpflegungsstation nehme ich einen Schluck Iso oder Cola. Ich habe Sodbrennen von all dem süssen Scheiss. Begab lasse ich es laufen, bremsen beansprucht die Muskeln zu sehr. Vorbei an Wendepunkt drei, da vorne muss irgendwo Eva sein. Da ist sie! Sie ruft „Hopp, Oli, hopp hopp, gseht guet us!“ Toll, danke, aber was ist meine Platzierung? Ich schaffe es nicht mehr, sie zu fragen, bin schon vorbei. Ich werde ja in fünf Minuten, nach der ersten Schlaufe im Städtchen, nochmals bei ihr vorbei kommen, dann sagt sie es mir hoffentlich. Ich glaube, sie hat meinen fragenden Blick gesehen. So viele Zuschauer! Welch eine Stimmung! Das Wetter bessert sich, es trocknet ab. Schon neun Kilometer, nur noch 33, und noch frisch wie ein junges Reh (oder so). Alles wird gut. Da vorne ist Eva. „Du bisch Vierte! Super guet, Oli!“ Ich sehe meine 16-monatige Tochter Mara im Kinderwagen. Sie sieht mir direkt in die Augen, in dieser einen Sekunde, in der sie mich zwischen all den Zuschauern hindurch überhaupt sehen kann. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter und Tränen schiessen mir in die Augen. Vierter! Mach den Sack zu, Oli! Die erste Runde laufe ich in etwa 47 Minuten. Jetzt nur nicht euphorisch werden! Das Rennen ist noch lang, der Hammermann kommt immer erst bei etwa Kilometer dreissig. Ich bin zu schnell unterwegs, ich muss besser mit meiner Energie haushalten!
Die zweite Runde geht gut. Ich versuche mich zurückzuhalten, laufe aber trotzdem einen 4:45er Schnitt. Es hat jetzt bereits mehr Athleten auf der Strecke, es wird immer unübersichtlicher und schwieriger abzuschätzen, wer in welcher Runde und an welcher Stelle läuft. An jeder mühsamen Stelle, an der ich vorbei laufe (und es werden deren jede Runde mehr werden), sage ich mir: „Nur noch zweimal hier vorbei, Oli!“ Zeit für Gel Nummer zwei. Kilometer 19, da vorne komme ich wieder ins Städtchen, da vorne steht Eva. Wie viele Plätze habe ich in dieser Runde wohl verloren? Zwei? Drei? „Du bisch Zweite, drü Minute hinter em Erschte! Hopp, hopp, Oli, hopp!“ Ich kann es kaum glauben. Hoffentlich hat sie sich nicht getäuscht. Wieder will sich Euphorie breit machen. Ich muss sie unterdrücken. Das Podest ist mir egal, ich will nur einen Slot. Noch nicht einmal die Hälfte vom Marathon ist geschafft, und es kann noch alles passieren. Schneller werde ich jedenfalls nicht mehr, und der Hammermann kann an jeder Ecke lauern. Wenn ich gegen die Mauer laufe, ist alles futsch! So nah am Slot und dann nichts. Mit Glück vielleicht ein Finish, gehend im Dunkeln. Wenn ich Krämpfe bekomme, ist alles futsch! DNF statt Hawai’i. Ruhig bleiben, positiv denken, haushalten! Mach den Sack zu! Den Halbmarathon laufe ich in 1:36. Ganz ordentlich für über 200 Höhenmeter. Sehr schnell für meine Verhältnisse. Habe ich überzockt?
Die dritte Runde tut schon ziemlich weh. Das Laufen wird zäher, vor allem bergauf. Das Trinken kostet viel Überwindung, aber ich habe keine Wahl. Bergauf bin ich zwar noch immer einer der schnelleren, aber ich muss die Zähne zusammenbeissen. Komm schon, Oli, für genau diese Passage hast Du unzählige Male trainiert, hast Du am Ende von langen Läufen noch eine Steigung eingebaut! Ist doch Peanuts! Oder so. Zurück vom ersten Wendepunkt frischt der Wind nochmals auf, so stark und direkt von vorne, dass ich beinahe stillstehe. So ein Kack. Weiter, Oli, es ist für alle gleich! Ich reisse Gel Nummer drei auf. Nicht mehr weit bis Kilometer dreissig. Hinter welcher Ecke lauert der Hammermann? Wir er sich mir zeigen, mit seinem bösen Grinsen, und mir dann eins überziehen mit seinem polierten 10 kg Schlägel aus Edelstahl? Da vorne steht nicht er, sondern Eva: „Du bisch Vierte. Gsehsch guet us!“ Danke, ich weiss. „Säg mir, wie vil Vorsprung uf de Nünti!“ rufe ich zurück. Ok, Vierter ist noch immer komfortabel. Dass ich stärkere Radfahrer aber schwächere Läufer überholen würde war klar, und dass mich schwächere Radfahrer aber stärkere Läufer überholen würden, auch. Die Frage ist nur, wie viele. „Du häsch zwölf Minute Vorsprung uf de Nünti gha, bi Kilometer 25.“ Ruft mir Eva zu, als ich wieder bei ihr vorbei komme, nun zum letzten Mal. Das nächste Mal wird sie bereits im Ziel auf mich warten. Zwölf Minuten. Ich beginne zu rechnen: Ich habe zwölf Minuten Vorsprung bei noch rund 15 zurückzulegenden Kilometern, also muss der Neunte mehr als 45 Sekunden pro Kilometer schneller rennen als ich, um mich noch einzuholen. Und die vier dazwischen müssen dabei auch alle schneller sein als ich. Mach den Sack zu!
Zu Beginn der vierten und letzten Runde fühle ich mich schwach. Ich nehme den letzten Gel hervor. Es braucht ca. dreissig Minuten, bis seine Energie bei meinen Muskeln angekommen ist, also nichts wie rein damit, denn in fünfzig Minuten werde ich im und am Ziel sein, hoffentlich! Jetzt sehe ich jede Stelle, an der ich vorbei komme, zu letzten Mal. Was für ein Gefühl! Noch ein letztes Mal hoch zum ersten Wendepunkt, dann habe ich Kind schon fast geschaukelt. Nochmals beissen. Hierfür hast Du trainiert, Oli. Der Gel beginnt zu wirken, die Aussicht auf das nahende Ziel beflügelt mich. Am Wendepunkt zwei hole ich mir den vierten und letzten Haargummi. Zwei Athleten mit ebenfalls vier Haargummis an den Armen überholen mich kurz darauf. Die könnten in meiner AK sein. Bin ich jetzt nur noch sechster? Ich muss dran bleiben. Mach den Sack zu! Den einen hole ich kurz vor Wendepunkt drei wieder ein, am anderen bleibe ich dran. Wir kommen ins Städtchen. Ein Blick auf die Uhr bestätigt mir, dass ich noch immer ganz gut unterwegs bin: 5:00 Minuten habe ich für Kilometer 41 gebraucht. 3:21 Stunden für die 41 Kilometer bis anhin. Das muss reichen. Noch einen Kilometer! Flamme rouge! Ich geniesse nochmals die jubelnden Zuschauer und beginne zu fliegen. Alle Schmerzen sind wie weggeblasen, ich habe das erste Running High in meinem Leben. Ich überhole noch den anderen Athleten und biege dann in die Zielgerade ein. Da ist Eva, ich kann sie unter den hunderten Zurufen heraushören: „Hopp, Oliiiii!“ Ich könnte vor Glück losheulen wie eine Pussy. Ich reisse mir die Startnummer von der Hüfte und halte sie in die Höhe, als ich über die Ziellinie laufe, denn heute will ich, dass der Speaker es sagt, heute will ich es hören: „Oliver, you are an Ironman!“ 10:19:14 zeigt die Uhr. Ich bin Vierter meiner AK. Der Sack ist zu.

 

Man könnte meinen, ich würde in der folgenden Nacht wie ein Baby schlafen, aber dem war nicht so. Auf der linken Seite tat mir der Finger weh, auf der rechten die Prellungen und  Schürfungen. Aber ich war zutiefst zufrieden und glücklich. Am nächsten Tag würde ich an der Awards Ceremony meinen Hawai’i-Slot für 2018 abholen und mit meiner Familie nach Hause fliegen. Mission accomplished. Ich wurde Vierter in meiner AK, bester Schweizer (inklusive Pros) und 33ster Overall, beziehungsweise 19ter ohne Pros. Auf den Dritten meiner AK hatte ich übrigens am Ende gute drei Minuten Rückstand und auf den Fünften fast neun Minuten Vorsprung, auf den Neunten gute 23. Eine besondere Genugtuung für mich war, dass ich den Startplatz an der WM auch ohne die 25 Extra-Slots geholt hätte und sogar in der AK 35-39 noch Vierter geworden wäre.

Ich danke herzlichst  allen Triämtlern und Freunden, die mitgefiebert haben. We live the spirit!
Der grösste Dank gilt meiner Familie, die psychisch noch mehr gelitten hat, als ich.

Aloooo-ha!

Oli