Ironman World Championship Race Report – Oli Fischer

„E ala e!“ das Hawaiianische Morgenlied ertönt über die Lautsprecher, so dass ich es an der Startlinie im Wasser hören kann. Ich schwimme mich gerade ein, um 0650, eine Viertelstunde vor dem Start zum 41. Ironman Hawaii der Geschichte. Seit zwei Stunden bin ich auf, habe die Prozedur mit Frühstück, Einölen und Eincrèmen hinter mir, und vor einer guten Stunde sind Eva und ich mit dem Auto so nahe es ging an den Startbereich hinuntergefahren. Hinter dem King Kamehameha Hotel, das sozusagen im Herzen der Veranstaltung liegt, habe ich mich dann dem Bodypainting unterzogen: Eine freundliche Dame hat mir meine Startnummer auf den Unterarm geklebt. Überhaupt sind die Helfer an dieser Veranstaltung äusserst freundlich. Es sind hunderte, und sie sind aus aller Welt angereist, um freiwillig an diesem Jubiläumsevent zu unterstützen und um den Mythos Ironman Hawaii einmal mitzuerleben zu können – genau wie ich, nur von einer anderen Perspektive. Bereits hier, lange vor dem Rennen, sorgen sie mit viel Enthusiasmus für eine Stimmung, die ich noch nie bei einem Wettkampf erlebt habe. An jeder Station, die ich auf dem Weg in die Wechselzone durchlaufen habe, hat man mir viel Glück und ein gutes Rennen gewünscht. So auch bei Wägen. 142.8 Pfund hat das Mädchen in seiner Liste notiert, zusammen mit meiner Startnummer, damit man sehen kann, wie sehr ich dehydriert bin, falls ich heute einen unfreiwilligen Besuch im Medical Tent machen muss. Um dem vorzubeugen, habe ich in der Wechselzone noch meine drei Trinkbehälter am Velo angebracht. Der Druck in den Reifen passt, die Schuhe habe ich glücklicherweise erst heute eingeklickt, denn vom Regen in der Nacht ist alles nass geworden. Überhaupt hat der Regen die die Temperatur gesenkt, und es ist etwas kühler heute, als die Tage zuvor. Einige Wettervorhersagen sprechen gar von weiteren Schauern am Nachmittag. Ein Ironman bei Regen in Kona? – Unvorstellbar! Aber möglich: Erst vergangenen Montag hat es den ganzen Nachmittag durchgeregnet.
Noch zehn Minuten bis zum Start. Ich schwimme noch einmal in der Bucht hin und her. Vor zwanzig Minuten, gleich nach der ergreifenden Amerikanischen Nationalhymne, und einem Selfie vor dem Zielbogen, hat mich Eva goodbye-geküsst. Sie hatte Tränen in den Augen und sagte mir, ich solle auf mich aufpassen, da draussen. „Klar, bis später!“ – Natürlich habe ich nur eine Ahnung von dem, was mich heute erwartet. Bestimmt habe ich Respekt vor der Hitze, und ein wenig Unsicherheit schwebt auch mit, liegt meine letzte absolvierte Langdistanz doch schon mehr als ein Jahr zurück! Aber schlussendlich ist es auch nicht viel mehr als ein Ironman bei heissen Temperaturen. Es werden keine Weissen Haie im Wasser auf mich warten, es wird mich kein Orkan vom Rad fegen, und ich werde nicht vor glühenden Lavaströmen davonrennen müssen. Ausserdem zählt für mich heute der olmypische Gedanke: Mitmachen ist alles. Und Finishen. Der Rest ist Kosmetik. Ich will den Event möglichst geniessen, und es wäre schön, vor Sonnenuntergang ins Ziel zu kommen. (Sonnenuntergang ist um 1800, das heisst, eine Zeit von unter elf Stunden ist anzustreben.) Ob ich heute Abend als 100. oder 200. meiner Kategorie gewertet werde, ist irrelevant. Ich werde den Traum, ein Kona-Finisher zu werden, durch nichts kompromittieren. Ich nehm‘s easy. Bring en hei!
Noch fünf Minuten bis zum Startschuss. Die Profis sind schon seit knapp einer halben Stunde unterwegs. Wer führt wohl? Wird Lange beim Marathon wieder alle stehen lassen? Oder zeigt Gomez auf Anhieb allen, wer der Triathlonkönig über alle Distanzen ist? Oder kann Sanders für die ganz grosse Überraschung sorgen? Kackt Kienle wieder ab? Wird Wurf einen weiteren Bikerekord aufstellen? Gibt es überhaupt neue Streckenreckorde? Und bleibt Daniela Ryf weiterhin unbesiegt? Ein bisschen bedaure ich, dass ich das Profirennen nicht zuhause auf der Kouch, Verzeihung Couch, am Fernseher live verfolgen kann. Aber live dabei zu sein, ist auch nicht schlecht. Und wenn ich mich etwas spute, kreuze ich den Sieger vielleicht auf seinen letzten Metern auf der Hualalai Road oder sogar noch auf der berühmten Palani Road.
Zusammen mit gut 1700 anderen Triathleten reihe ich mich zum Wasserstart auf der über hundert Meter breiten Startlinie ein, ganz rechts, etwa in fünfter Reihe. Die Nervosität der Masse ist spürbar, beinahe ansteckend. Aber seltsamerweise bin ich null nervös, wie schon in den vergangenen Stunden und Tagen nicht. Vermutlich bin ich langsam ein alter Hase geworden, routiniert. Ich weiss, was ich meinem Körper und Geist zumuten kann, und vertraue darauf, dass mir hier auf Hawaii, in meiner Seelenheimat, nichts schlimmes widerfahren wird. Aber das Wassertreten mit hunderten von Menschen um mich herum ist nicht gerade angenehm. Immer wieder berührt man einen seiner etwa sechs Nachbarn, und ich hoffe, dass keiner in Panik gerät und beginnt, um sich zu schlagen oder sich an anderen festzuhalten. Ein Blick auf die Uhr: 07:03. Bald kommt der erlösende Startschuss. Ich starte meine Stoppuhr.
07:05 Uhr. John Collins, der Mann, der vor 40 Jahren auf Oahu den Ironman erfand, betätigt zusammen mit seiner Frau Judy die Kanone, feuert den Startschuss zur Jubiläumsausgabe des Ironman Hawaii ab – peng! Das Wasser an der Startlinie beginnt schlagartig zu brodeln, als sich die gut 1700 Athleten um mich herum in Bewegung versetzen. Ich mich auch.

Die ersten zwanzig Minuten sind der pure Überlebenskampf. Um mich herum nur schlagende Arme und Beine. Weisses Wasser. Kein Ausweg. Ich bin in einem Strom von Menschen gefangen, die alle etwa gleich schnell schwimmen wie ich. Das heisst, die Situation ist ziemlich festgefahren. Ich versuche, ruhig zu bleiben und so etwas wie einen Rhythmus zu finden, die Atmung den Begebenheiten anzupassen: Mal zweier links, mal zweier rechts, mal dreier… Die eigene Orientierung und Richtung sind illusorisch; ich schwimme einfach im Strom mit. Delfine sehe ich übrigens keine, auch keine Quallen. Nur hin und wieder eine hellblaue Badekappe, die im dunklen Blau unter mir hindurchschwebt.
Beim Body Glove Boot, in der Hälfte der Schwimmstrecke, hat sich das Feld etwas verteilt. Ich riskiere einen kurzen Blick auf die Uhr: 29:42. Vermutlich hat die Strömung etwas geholfen. Noch immer schwimmen Dutzende in meiner unmittelbaren Nähe, aber wenigstens ist man nicht dauernd in Körperkontakt, und die Abstände untereinander erlauben ein einigermassen freies Schwimmen und Atmen sowie beschränkt eine eigene Richtungswahl. So langsam werden meine Arme Pudding. Wäre ich in den letzten Wochen doch ein wenig mehr geschwommen! Boje um Boje kämpfe ich mich dem Ausstieg entgegen. Mir ist langweilig. Zwischenzeitlich versuche ich, mit etwas mehr Druck zu schwimmen, heraus aus dem Wasserschatten des Vordermanns, aber das ändert nur die Reihenfolge untereinander; schneller bin ich dadurch nicht.
Nach einer guten Stunde erreiche ich die letzten hundert Meter. Jetzt, wo alles wieder zusammenläuft, beginnt das Gerangel von neuem. So ein Dreck! Einer überholt mich auf den letzten zwanzig Metern noch wie von der Tarantel gestochen, und schlägt mir dabei auch noch auf den Kopf. Yo bro‘, hast gerade fünf Sekunden gewonnen und Dich vom 706. auf den 705. Zwischenrang verbessert. Gratuliere, Arschloch! Ich versuche, meinen Aloha-Spirit schnell wiederzufinden, und erinnere mich daran, welch Privileg es ist, hier heute dabei zu sein. Es ist ein einmaliges Erlebnis, und ich muss es geniessen. Idioten gehören zum Triathlon nun mal dazu. Das ist ja nichts Neues. Das war schon 1996 in der Kanti so, als mir Griesser (so hiess er, glaube ich) auf dem Pausenplatz über einen seiner wenigen Freunde ausrichten liess, er werde mich am Sporttag-Triathlon regelrecht „zersägen“. Er hatte nicht den Pfupf im Füdli, es mir selber zu sagen. Und auch nicht, es zu tun. Er war ein Idiot.
Aber es gibt auch andere, wie Bruno Invernizzi. Er ist mein sportliches Vorbild; ich nenne ihn nur den „Champ“. Er hat als Age Grouper in der Schweiz wie auch international auf allen Distanzen so viele Erfolge, wie kaum ein anderer. Aber er ist dabei auf dem Boden geblieben. Er liebt zwar den Szenentalk und die Gadgets wie jeder von uns Triathleten, aber in seinem Leben gibt es noch andere Dinge, über die man mit ihm sprechen kann. Sein „Wie geht’s?“ ist keine eine Aufforderung zur Gegenfrage und damit Einstieg in einen egozentrischen Monolog über Fitness und Leistungen zur temporären Anhebung des eigenen Selbstwertgefühls und Hinwegtäuschung eines ansonsten leeren Lebens, siehe Facebook. Bruno habe ich übrigens mein Comeback in diesem wunderbaren Sport zu verdanken, als er mir vor vielen Jahren (2006, glaube ich) bei einer gemeinsamen Velofahrt im Tessin den Floh ins Ohr setzte, es sei nicht so eine unmögliche Sache, sich für Kona zu qualifizieren: Schwimmen in einer Stunde, Velofahren in fünf, und für den Marathon könnte ich mir dann dreieinhalb Zeit lassen, und schon hätte ich die Quali. Damals waren diese Zeiten für mich utopisch, und noch hatte ich auch nicht wieder mit Triathlon begonnen, aber der Floh war gesetzt. Und heute ist Kona Realität. Ich steige nach 3.86 km Schwimmen am Dig Me Beach aus dem Wasser.

 

Einige Sekunden bleibe ich unter einem der Schläuche vor dem Wechselzelt stehen, um mir das meiste Salzwasser abzuspülen. Salzig werde ich aber bald wieder sein, von meinem Schweiss. Ich greife mir den Bike Bag – darin befinden sich nur meine Oakley und ein Koffein-Shot, der Rest ist beim Velo – und lasse das gerammelt volle Wechselzelt aus. Auf einem schwarzen Teppich geht es am äusseren Rand der Wechselzone entlang zu meinem Bike. Ein Athlet vor mir stolpert über eine Falte und klatscht der Länge nach auf den Teppich, dass das Wasser darin nur so spritzt. Ich kann gerade noch ausweichen. Nach der Mülltonne rechts, nach dreissig Metern auf der linken Seite, da ist mein Velo. Helm auf und raus aus der Wechselzone!
Die ersten zehn Kilometer führen im Zickzack durch Kona zuerst nach Süden, ein wenig aufwärts, und dann geht es nach einem Turnaround die gleiche Strasse zurück. Kurz vor dem Turnaround, unweit von unserem Haus, steht meine Familie und feuert mich an. Ich geniesse den Augenblick, denn ich werde sie jetzt lange nicht sehen. Denn anschliessend radelt man auf dem Queen K Highway, 85 Kilometer Richtung Norden bis nach Hawi, und dann zurück nach Kona. Auf den ersten Kilometern kann niemand die zwölf Meter zum Vordermann einhalten, zu viele Athleten sind miteinander auf der Strecke. Erst auf dem Highway bildet sich langsam eine schier unendliche Kette von Velos, soweit das Auge reicht! Alle 40 Fuss, also circa 12 Meter, sind am Strassenrand Reflektoren eingelassen. An ihnen können sich Athleten und Schiedsrichter orientieren, ob der Abstand eingehalten wird. Ich konzentriere mich darauf und versuche, locker zu kurbeln. Es fühlt sich sehr easy an, wie bei einer Ausfahrt zum Gipfeliholen am Sonntagmorgen. Vielleicht zu locker? Ich werde andauernd überholt, dabei fahre ich 36 km/h im Schnitt! Egal, ich mache mein eigenes Ding, der Tag ist ja noch lang. Ich achte darauf, regelmässig zu trinken, auch wenn es noch nicht wirklich heiss ist. Etwa alle zehn Kilometer kommt man an einer Verpflegungsstation vorbei, die etwa hundert Meter lang ist und ziemlich alles bietet, was man an Verpflegung auf dem Velo brauchen kann. Dutzende von Helfern strecken einem Flaschen und Gels entgegen. Für die erste Stunde habe ich noch meine eigene Verpflegung, danach greife ich nach Gatorade, dem Standard-Isogetränk hier. Später dann auch nach Wasser, um mich zu kühlen.

 

Auf einem abgesperrten Amerikanischen Highway Velo zu fahren, ist an sich schon ein ganz spezielles Gefühl; dies in einer kargen Landschaft von mehrheitlich schwarzen Lavafeldern, entlang einer opalblauen Küste zu tun, ist aber unvergleichlich. Ab und zu löse ich meinen Blick vom Vordermann und den Reflektoren und lasse ihn über die bizarr schöne Landschaft schweifen. So richtig schön wäre es, allein zu sein. Aber wieder werde ich überholt, und diesmal von einer ganzen Traube von Velofahrern. Es sind gegen dreissig, die mich alle praktisch gleichzeitig überholen. Sie fahren zu dritt, zu viert nebeneinander, einige überholen mich sogar rechts auf dem Pannenstreifen, fluchend und gestikulierend. Ich kann es kaum fassen. Gibt es für ‚no drafting’ keine Übersetzung ins Italienische? Die Traube frisst sich rasch nach vorn. Kopfschüttelnd fokussiere ich wieder auf die Reflektoren, die im Schnitt alle 1.2 Sekunden an mir vorbeikommen. Ich mache mein Ding. Ich fahre fair. Kurz darauf fährt eine Harley an mir vorbei – ein Schiedsrichter. A presto, amici!
Beim nächsten Penalty Tent (einem von vier auf der Radstrecke) herrscht Grossandrang: Rund vierzig Athleten haben die Füsse auf dem Boden und warten ihre Strafminuten ab. Generell wird Drafting konsequent bestraft; ich werde insgesamt viermal Zeuge wie ein Schiedsrichter einen Athleten vor mir ‘rausnimmt.
Trinken und Reflektorengucken sind während insgesamt gut fünf Stunden meine primären und praktisch einzigen Beschäftigungen. Nach Hawi wird mir langweilig, denn ab hier habe ich auch die Landschaft bereits schon mal gesehen. Und wie Gatorade schmeckt, weiss ich inzwischen auch. Das Kurbeln fühlt sich noch immer locker an, aber der Sack tut mir langsam weh. Oder ist es die Prostata? Ich glaube, ich werde langsam alt. Gerne würde ich mal bremsen oder kurven fahren, aber technisches Fahrtalent ist hier noch weniger gefragt, als bei sonst einem Triathlon. Ich sehne mich nach meinem Mountainbike und einem knackigen Downhill auf einem Walliser Singletrail! Nicht einmal die berüchtigten Mumuku-Winde kommen heute auf, die fahrtechnisch ein wenig Action gebracht hätten. Auf dem Rückweg nach Hawi haben wir sogar leichten Rückenwind. Kurz für Spannung sorgen die mir im Aufstieg nach Hawi entgegenkommenden Profis: Ich versuche, die Rennsituation etwas mitzubekommen, aber viel erkennen kann ich nicht. Ausser, dass bei den Männern eine dreiköpfige Gruppe mit ziemlichem Abstand führt, gefolgt bereits von Lange, der ebenfalls in einer Gruppe unterwegs ist. Sanders ist unerwartet abgeschlagen. Kienle und Gomez kann ich nicht ausmachen, was bei einer Relativgeschwindigkeit von ca. 80 km/h aber auch nicht verwunderlich ist. Bei den Frauen führt Lucy Charles – ebenfalls unerwartet – mit ordentlichem Abstand vor Daniela Ryf. Ich wünsche mir die Couch und den Fernseher herbei.

 

Auf den letzten fünfzig Kilometern macht sich die Hitze gut bemerkbar, auch wegen des leichten Rückenwindes; aber mit dem eisgekühlten Wasser, das ich mir an jeder Station an Kopf, Nacken und Oberschenkel giesse, ist sie kein Problem. Einmal, rund dreissig Kilometer vor Kona, nieselt es einmal aus lokal dichten Wolken, aber der Regen bleibt aus. Kona liegt unter blauem Himmel, wie auch das Meer im Nordwesten, wo der Wind herkommt.
Als ich nach fünf Stunden auf dem Velo zur Wechselzone hinunterfahre, zwinge ich mich, meinen fünften Bidon auszutrinken und versuche, die letzten paar hundert Meter auf meinem Göppel noch zu geniessen. Ich sage ihm leise: „Guet gmacht, Schätzli!“ Dieses Bike hat mich auf meinem langen Weg nach Kona stets treu begleitet und mich nicht einmal im Stich gelassen. Nicht einen Platten hatte ich in all den Wettkämpfen. (Heute habe ich übrigens 11 Athleten ihre Platten flicken gesehen!) Ich wusste schon damals, als ich es aus akribisch zusammengesuchten Teilen mit aller Detailliebe zusammengebaut hatte (und mit dem Dremel Löcher zur internen Kabelverlegung in den Rahmen gefräst hatte), dass mich dieses Rad nach Kona führen würde: Auf der Sattelstütze brachte ich die Figur von King Kamehameha an, seinen Arm den Weg weisend ausgestreckt, den Weg nach Kona.

 

Ich schwinge mich aus dem Sattel. 180.2 Kilometer Strasse und 15’000 Reflektoren liegen hinter mir. Welche Erlösung! Helfer der Shimano-Crew nehmen hinter der Linie die Räder entgegen. Was für ein Service! Wie von alleine läuft es sich zu den Racks mit den Run Bags, wo ein Supporter schon meinem Beutel in den Händen hält. Was für ein Service! Im Wechselzelt stinkt es nach Urin. (Hier hat Daniel Ryf, werde ich später erfahren, ja über ihren Quallenbrand gepinkelt, aber von ihr alleine kann es nicht sein.) Der Besuch im Zelt ist diesmal unumgänglich, ich halte die Luft an. Ein weiterer Helferpackt meinen Beutel aus und reicht mir all meine neuen Sachen und nimmt die alten entgegen. Was für ein Service! Und bei diesem Gestank! Vielleicht bin ich zu empfindlich. Ich glaube, ich werde langsam alt. Nur raus hier!
Die Lufttemperatur ist unangenehm hoch. Die Luftfeuchtigkeit ist unangenehm hoch. Vielleicht bin ich zu empfindlich. Es sind ja nur noch 42 Kilometer ins Ziel – Du musst es geniessen, Oli! Meine Beine sind noch praktisch wie neu, aber in meinem Magen gutscht unverdautes Gatorade hin und her, rauf und runter. Trotzdem zwinge ich mich, an jeder Station (und es sind viele) ein wenig zu trinken. Wird schon werden, nur locker bleiben! Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, etwas mehr Tempo zu machen, um unter zehn Stunden zu finishen. Aber diesen verwerfe ich auch schnell wieder. Nichts riskieren! Den Finish in Kona durch nichts kompromittieren! Vor Sonnenuntergang sollte ich es allemal ins Ziel schaffen, und damit kann ich mehr als zufrieden sein. Ausserdem will ich die nächsten zweieinhalb Wochen Ferien hier auf den Inseln geniessen können. In der Hanalei Bay, an Oahu’s North Shore und in Waikiki surfen und mit meiner Tochter baden und Sandburgen bauen. Ich habe keine Lust, mir jetzt hier den Gong zu geben, um vielleicht eine Viertel- oder halbe Stunde schneller zu sein. Ich nehme es lieber weiterhin ganz easy.

 

Auf dem von Zuschauern gesäumten Alii Drive, eine Meile vor beziehungsweise nach dem Turnaround (also etwa bei Kilometer 5 und 8) stehen meine Liebsten. Sie cheeren wie verrückt, dass es mich die Hitze für ein paar Minuten vergessen lässt. Sie zu sehen, tut noch besser, als das eiskalte Wasser, das ich mir an jeder Verpflegungsstation überschütte. Unvorstellbar, die Mengen an Pappbechern und Eis, die hier heute vernichtet werden! Die ersten zehn Kilometer vergehen wie im Flug, ohne grosse muskuläre Anstrengung, ohne Schmerzen, nur dieses leichte Unwohlsein im Magen und natürlich die Hitze, die jetzt, Mitte Nachmittag, am grössten ist. Ach ja, und in meinem linken Schuh hat sich die Innensohle gelöst und ist nach aussen gerutscht. Immer mal was Neues. Bringt Abwechslung ins Spiel. Es wird mir klar, dass ich das bald einmal richten muss, sonst riskiere ich Blasen. Durch nichts das Finishen kompromittieren! Ich entscheide mich, im Aufstieg der Palani Road, wenn ich sowieso langsam bin, kurz anzuhalten, um den Schuh auszuziehen und die Sohle neu einzulegen. Ich schaue auf die Uhr und rechne kurz: Es ist 14:21 Uhr, die Profis sind seit 06:35 unterwegs – das heisst, so in fünf, zehn Minuten werde ich dem oder den Führenden begegnen. Wenige Augenblicke später, ich komme gerade oben auf der Palani Road an und biege auf den Queen K Highway ein, kommt mir eine Harley mit Kameramann entgegen, dicht gefolgt von einem Athleten in auffälligen Socken und ästhetischem Laufstil – Lange macht‘s wieder! Und in welcher Zeit! Unter acht Stunden!? Habe ich richtig gerechnet? Wow! Geile Sau. „Quäl Dich, Du Sau!“ (ein Spruch aus einer älteren Szene bei der Tour de France) rufe ich ihm zu, als wir uns kreuzen. Er hat es praktisch schon geschafft. Noch zwei Kilometer für ihn. Für mich sind es noch 28. Die Qual ist jetzt wohl eher bei mir, als bei ihm.
Jetzt kommt der mühsamste Teil des Rennens: Zehn schier endlose Kilometer (oft geradeaus aber nie eben) auf dem öden Highway zum Flughafen, drei runter zum Energy Lab, und dann das Ganze wieder zurück. Kaum Zuschauer, die einem Mut machen, nur alle paar Kilometer mal eine Verpflegungsstation. Bei maximaler Tagestemperatur, mit bereits vielen Stunden und noch viel mehr Kilometern in den Knochen. Das wird zäh und nicht schön. Nicht so, wie zum Beispiel beim Inferno-Triathlon, wo man ab Mürren auch müde und alleine ist, aber das einmalige Bergpanorama Nektar für Augen und Seele ist. Hier saugt der schwarze, in dieser Hitze grässlich nach Bitumen stinkende Asphalt alles Positive aus einem heraus, wie ein Schwarzes Loch – noch mehr als die schwarze Lava am Rand. Und er scheint auch das Gatorade aus meinem Magen heraussaugen zu wollen. Bei jeder weiteren Verpflegungsstation kämpfe ich mehr gegen den Brechreiz, wenn ich etwas trinke. Der Bitumengestank hilft auch nicht gerade. Eigentlich macht mir der am meisten zu schaffen. Noch mehr als damals der Cervelatgeruch der Wurststände im Seefeld beim Ironman Zürich. Wenn ich anschlägig werde, stören mich Gerüche am meisten – und unschöne Dinge anschauen zu müssen, wie Leute, die kotzen, oder verkrüppelte Laufstile. Zum Glück muss ich mich nicht selber anschauen! Ich versuche an etwas Schönes zu denken – an meine Familie, die an der Abzweigung zum Energy Lab stehen wird, und wie ich meine Tochter kurz in die Arme nehmen und drücken werde. Noch sechs Kilometer bis dahin. Auf diesem Abschnitt hinaus zum Flughafen habe ich wenigstens noch etwas mentale Abwechslung mit den mir entgegenkommenden Profis. Ich kann einen etwas unerwartet distanzierten Gomez, einen nicht unerwartet schwachen Van Berkel und einen sehr unerwartet abgeschlagenen Sanders erkennen. Und ganz unerwartet keinen Kienle. Egal, kann ich mir alles morgen auf YouTube ansehen. Hauptsache, mich erwartet meine Familie. Noch drei endlose Kilometer Bitumengestank und Brechreiz bis zu ihnen.

 

Endlich bin ich bei ihnen, ein weiteres Zwischenziel ist erreicht. Lange mussten Sie auf ihren Campingstühlen unter dem Sonnenschirm auf mich warten, jetzt wissen sie gar nicht, ob sie rufen oder fotografieren sollen, haben einen riesen Stress. Ausser Mara, die weiss, was sie will, rennt auf mich zu. Ich halte an und schliesse sie in meine verschwitzten Arme. „Tudu tschogäääää? Bidu na-aaass?“ – „Ja, Schätzeli, beides! Ganz viel.“ Ich drücke der Kleinen einen klebrigen Kuss auf die Stirn und gebe sie zurück an die Hand meiner Mutter. Ich winke allen noch und laufe runter ins Energy Lab.

 

Eine Viertelstunde später, ganz unten, kurz vor dem Wendepunkt, übernimmt der Brechreiz die Kontrolle über meinen Körper. Ein weiterer Schluck Gatorade Lemon an der Station kurz davor hat das Fass buchstäblich zum Überlaufen gebracht. In zwei Schwallen (zuerst gelb und dann orange) ergiesst sich unverdautes Gatorade über die Lava. Okay, das ist suboptimal. Jetzt werden die restlichen 15 Kilometer zum Überlebenskampf. Ohne Flüssigkeit und Energie werde ich mich ins Ziel retten müssen. Ob ich ab nun überhaupt noch etwas zu mir nehmen kann? Ich stelle mich darauf ein, dass ich bis ins Ziel nur noch gehen kann. Die Ankunft vor Sonnenuntergang, ja das Finishen überhaupt sind schlagartig fraglich geworden. Zum Kotzen! Das einzig Positive: Das flaue Gefühl im Magen ist weg. Und ich bin jetzt ein knappes Kilo leichter. Ich versuche zu joggen. Es geht. Jetzt im Notprogramm ins Ziel! Einfach schauen, dass ich nicht dehydriere! Und kühlen, kühlen, kühlen!
Paradoxerweise überhole ich in meinem Zustand Athleten, denen es noch schlechter gehen muss, als mir. Sie gehen. Überhaupt gehen viele hier, in der Schlaufe zum und vom Energy Lab. Ich versuche, nicht zu gehen. Das lässt mir mein Stolz nicht zu. Nur bei den Stationen mache ich eine Ausnahme; da nehme ich mir die Zeit, möglichst viel eiskaltes Wasser über mich zu schütten und vielleicht einen Schluck zu trinken. Wasser und Cola scheine ich zu vertragen, bei Gatorade oder sonst was verdreht sich mir der Magen nur schon beim Gedanken daran.

 

Als ich beim Einbiegen auf den Highway meine Liebsten wiedersehe, ist das Schlimmste schon fast wieder vergessen. Ab jetzt sind es nur noch eine zehn Kilometer lange Zielgerade und ein zwei Kilometer langer Zieleinlauf. Rückblickend kann ich sagen, dass das Energy Lab zu Unrecht so berüchtigt ist. Es ist hauptsächlich ein Mythos. In Realität sind es nur sechs kurzweilige Kilometer, leicht bergab und zurück bergauf, wohl in einer kargen Landschaft, in der Nachmittagshitze und ohne Schatten. Klar, es ist heute auch nicht ganz so heiss… und ja, ich habe dort den Tiefpunkt meines Rennens erleben müssen – aber kotzen müssen hätte ich genauso woanders gekonnt. Das Energy Lab ist aber der reinste Stimmungskessel, mit vielen Zuschauern, guter Stimmung und Musik. (Bei mir lief unter anderem ‚Little Red Corvette‘ von Prince. – Geil!) Dazu kommen noch ganze fünf Verpflegungsstationen. Ich habe mir das Energy Lab als die Hölle im Triathlon schlechthin vorgestellt, aber das ist es (für mich) definitiv nicht. Da sind die zehn öden Kilometer zum und vom Flughafen viel die härteren. Keine Zuschauer, nur kaputte Athleten. Es geht immer leicht rauf und runter, und man sieht meilenweit den stinkenden Asphalt vor sich, aber nicht das Ziel. Jetzt, auf dem Rückweg, versteckt sich Kona perfid hinter der letzten Anhebung des Highways. Man sieht das Ziel also quasi erst, wenn man schon fast da ist. Es lockt nicht schon als Zückerli in der Ferne, davor. Und auch hier ist kein Schatten, jenseits der Leitplanken nur Lava und alle paar Kilometer mal hässliche Industriebauten. Aber ich muss sie noch geniessen, meine letzten Kilometer auf dem Weg zur Erfüllung eines Lebenstraums – den Ironman Hawaii zu finishen!
Genuss sind die Becher eisgekühlten Wassers und Colas, die hier an jeder der vielen Stationen gereicht werden, bis spät in die Nacht hinein. Welch ein logistischer Aufwand! Und jede Station ist etwa fünfzig Meter lang, bestückt mit Schwämmen, Eis, Wasser, Iso, Cola, Red Bull, Gels, Früchten, und zum Schluss wieder Iso, Wasser, Eis und Schwämmen. An jeder Station geben fast ein Dutzend Helfer während elf Stunden – die meisten davon in brütender Hitze – tausende von Pappbechern aus. Alleine ich nehme mir jedes Mal etwa sechs, sieben davon.
Die letzten Kilometer auf dem Highway laufe ich schon fast in einem tranceähnlichen Zustand. Ich habe meine externe Wahrnehmung praktisch entkoppelt, es gibt da ja auch nichts Schönes zu sehen, zu hören oder zu riechen. Ich bin ganz bei mir, in meinem Notprogramm, und unterdrücke jedes Aufmupfen des inneren Schweinehunds. Ins Ziel zu kommen hat oberste Priorität. Zweitoberste hat, das Ziel vor Sonnenuntergang zu erreichen. Und neu ist eine dritte dazu gekommen: Die Marathonzeit trotz allem unter vier Stunden zu halten. Dazu muss ich die verbleibenden vier Kilometer in weniger als 25 Minuten laufen. Das sollte klappen. Muskulär habe ich keine Schmerzen, auch keinerlei Anzeichen von Krämpfen. Es ist die Hitze, die meinem Körper die Grenzen setzt. Auf dem drittletzten Kilometer geht es nochmals bergauf. Wenigstens ist er schon gesäumt von den ersten Gewerbebauten Kona’s. Am Ende der Strasse dröhnt Musik über die hilflos überforderten Lautsprecher von Hannes Hawaii Tours. Welch ein Krach! Die Deutschen haben wiedermal nicht das richtige Mass. Ballermann. Ich muss mir die Ohren zuhalten, als ich vorbeirenne und in die Palani Road einbiege. Hier gibt es endlich wieder Häuser, Menschen, endlich wieder Leben. Noch zwei Kilometer zum Geniessen! Das Ziel ist so nah, ich kann sogar bereits den Speaker hören: „… you are an Ironman!“
Bei Kilometer 41 erwartet mich meine Familie. Es ist überwältigend, dass sie jetzt hier sind, um mit mir die grossen Emotionen zu teilen. Jetzt, am Ziel und am Ende eines langen Weges, auf dem sie für mich da waren, mich unterstützt und motiviert haben. Allen voran hat Eva mir geholfen, diesen Traum in Erfüllung gehen zu lassen. Ohne ihren Rückhalt wäre das Projekt Kona nicht möglich gewesen. Ich schliesse alle in die Arme, küsse sie. Und gehe auf den letzten Kilometer. Ich mache mir bewusst, wieviel ich zum Erreichen dieses Ziels investiert habe: Tausende von Stunden für das Training, zehntausende von Franken für Equipment, Gadgets, Trainingslager, Wettkämpfe. Jahre zum Aufbau von Erfahrungen, von Wissen in Trainingslehren und Ernährung, von Wettkampfroutine und zum Verfeinern von Techniken in allen vier Disziplinen (das Wechseln ist die vierte). Ich mache mir die zahlreichen Freundschaften bewusst, deren Fundament der Ausdauersport ist. Ich erinnere mich an die Begegnungen mit all den Menschen in diesen Jahren; mit denen, die Triathlon aus Liebe zum Sport machen, und mit denen, die Triathlon aus Liebe zu sich selbst betreiben. Ich denke an die vielen Freunde, Kollegen und Kameraden, die mir Glück gewünscht haben, die jetzt vielleicht in Gedanken bei mir sind, zuhause im Bett liegend oder vor dem Fernseher sitzend. Ich durchlebe nochmals die Qualen der Trainings und die Schmerzen der Wettkämpfe, spüre den Wind und Regen von Wales auf meiner Haut genauso wie meinen gebrochenen Finger. Ich geniesse die Endorphine nach einem Intervalltraining, empfinde die Genugtuung nach einem Finish und habe nochmals mein erstes und einziges Running High beim Zieleinlauf in Tenby. All dies und das Unbeschreibliche trage ich in meinem Herzen und meiner Seele über die Ziellinie des Ironman in Kona, Hawaii. Ich schaue noch einmal zurück, auf den letzten Metern meines langen Weges. Hier, am Ziel meines Traums, erkenne ich, dass es nicht der Ort, das Klima, die Mythen, die Menschen oder die Organisation sind, die diesen Wettkampf für jeden Athleten so einzigartig machen. Sondern es ist der Weg hierher. „Oliver Fischer, you are an Ironman!“